In der Tradition der Linken - Karl Kautsky (1854 - 1938)
Karl Kautsky gehörte über ein Vierteljahrhundert zu den prägenden Gestalten der deutschen und europäischen Arbeiterbewegung. Nach dem Tode von Friedrich Engels (1895) galt er unumstritten als Autorität in Fragen des Marxismus, nachdem er sich bereits durch sein publizistisches Wirken seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts eine anerkannte Position als Theoretiker des Marxismus erworben hatte. Wie Friedrich Engels gebührt auch ihm das Verdienst, den Marxismus gebrauchsfähig und massentauglich gemacht zu haben und zu dessen populärer Verbreitung in der Arbeiterbewegung beigetragen zu haben.
Doch in der offiziellen Geschichtsdarstellung in der DDR lastete auf Kautsky der Leninsche Bannfluch des „Renegaten“ (=Abtrünnigen). In seiner Abschlussrede auf dem Bielefelder Parteitag der LINKEN im Juli vorigen Jahr hatte Gregor Gysi nun für Entlastung gesorgt, indem er Kautsky neben Eduard Bernstein (siehe hierzu LinksWorte Nr. 96) zu den herausragenden linken Persönlichkeiten der deutschen Geschichte zählte, denen sich DIE LINKE verpflichtet fühlt.
Biographisches
Karl Kautsky wurde 1854 in Prag als Sohn einer Deutschen und eines Tschechen geboren. 1863 zog die Familie nach Wien, wo Kautsky das Gymnasium besuchte. Danach studierte er von 1874 bis 1879 Philosophie, Geschichte, Jura und Nationalökonomie an der Universität Wien. Sein Vater hatte eine Anstellung als Hoftheatermaler in Wien. Die Mutter Minna Kautsky sollte später als eine der ersten sozialistischen Schriftstellerinnen bekannt werden, nachdem sie zunächst als Schauspielerin in Olmütz, Sondershausen, Güstrow und an der tschechischen Nationalbühne in Prag engagiert war, aber aus gesundheitlichen Gründen ab 1861 diesen Beruf aufgeben musste.
Kautsky wollte die akademische Laufbahn nicht mehr einschlagen, nachdem er bei dem finanziellen Förderer der Sozialdemokratie Karl Höchberg in Zürich als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Herausgabe der Zeitschrift „Socialdemokrat“ und des „Jahrbuchs der Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ angestellt wurde. 1881 lernte Kautsky bei einer Reise nach London Karl Marx und Friedrich Engels kennen. Von 1885 bis 1890 lebte er in London und war eng mit Friedrich Engels befreundet. Nach dem Fall des Sozialistengesetzes 1890 kehrte er nach Deutschland zurück und lebte bis 1897 in Stuttgart und danach in Berlin.
Verheiratet war Kautsky zweimal: von 1883 bis 1888 mit Louise (geb. Strasser, 1860-1950), die nach der Scheidung in London als Privatsekretärin bei Friedrich Engels tätig war; und mit Luise (geb. Ronsperger, 1864-1944), die ihm von 1890 bis zu seinem Tod im Jahr 1938 verbunden blieb. Als Gefährtin an der Seite ihres Mannes war sie Diskussionspartnerin und Mittelpunkt des intellektuellen Lebens im Hause Kautsky. Außerdem war sie Organisatorin seiner und ihrer umfangreichen eigenen Korrespondenz und betätigte sich als Übersetzerin sozialistischer Schriften.
Zunehmend kränkelnd zogen sich die Kautskys 1924 nach Wien zurück, wo schon deren drei Söhne lebten. Der Anschluss Österreichs 1938 an das faschistische Deutschland vertrieb sie im hohen Alter ins Exil. Über Prag konnten Freunde das Ehepaar nach Holland bringen, wo Kautsky kurz nach der Ankunft im Herbst 1938 verstarb. Luise blieb in Holland, um ihrem seit 1937 in Konzentrationslagern inhaftierten Sohn Benedikt nahe zu bleiben. 1944 wurde sie selbst verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie kurz darauf starb. Benedikt erlebte 1945 die Befreiung aus dem KZ Buchenwald und sollte später in der Sozialistischen Partei Österreichs einige Bedeutung erlangen; 1960 starb er 65-jährig in Wien.
Wirken in der Sozialdemokratie
Obwohl Kautsky nie einem Vorstand oder einer Parlamentsfraktion der Partei angehört hatte, hatte er als sozialistischer Intellektueller doch einen nicht unbedeutenden Einfluss auf die Partei. Noch in seiner Zeit als Student an der Wiener Universität war er 1875 der Sozialdemokratischen Partei Österreichs beigetreten.
In der von ihm 1883 mitbegründeten Zeitschrift „Die Neue Zeit“ war er bis 1917 deren Herausgeber und leitender Redakteur. Sie war in dieser Zeit die wichtigste Zeitschrift der SPD, in der alle wesentlichen Grundsatzdebatten geführt wurden.
Gemeinsam mit Bernstein hatte Kautsky am Entwurf für das 1891 auf dem Parteitag in Erfurt angenommene Programm der SPD gearbeitet, zu dem er dann nach dessen Beschluss einen Kommentar verfasst hatte, der in der Partei weite Verbreitung erlangt hatte. Dieser Kommentar zum Erfurter Programm der SPD wurde auch in der DDR 1965 im Dietz-Verlag, dem Parteiverlag der SED herausgegeben, in dem das Buch „Die Vorläufer des neueren Sozialismus“ von Kautsky bereits 1947 erschienen war.
Bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs trat Kautsky als Gastredner in der SPD-Reichstagsfraktion dafür ein, den Kriegskrediten nicht zuzustimmen, sich aber wenigstens der Stimme zu enthalten. 1917 gehörte er mit Eduard Bernstein zu den Mitgründern der Unabhängigen Sozialdemokratie (USPD), weshalb er die Leitung „Der Neuen Zeit“ abgeben musste.
Nach der Novemberrevolution 1918 wurde Kautsky als Vertreter des Rates der Volksbeauftragten Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt. Hier befasste er sich tiefgehend mit der Frage der Kriegsschuld und veröffentlichte noch 1919 mit „Wie der Weltkrieg entstand“ eine erste kritische Studie zur Verantwortung Deutschlands für die Entfesselung des I. Weltkrieges. 1922 kehrte er zur SPD zurück und war Mitautor des wieder stärker kapitalismuskritischen Heidelberger Programms der SPD von 1925, nachdem im Görlitzer Programm von 1921 der Schwerpunkt auf Reformpolitik gelegt worden war.
Revolution, Sozialismus und Demokratie
Obgleich Kautsky die Bolschewiki als „die erste sozialistische Partei in der Weltgeschichte“ begrüßte, „der es gelang, ein großes Reich zu beherrschen, und die es unternahm, den Sozialismus zu verwirklichen“ und er auch die Friedensbemühungen der Sowjetregierung schätzte, stand er der Oktoberrevolution insgesamt recht skeptisch gegenüber.
Eine dauerhafte sozialistische Entwicklung sei erst dann möglich, wenn ein Land ausreichend hoch industrialisiert sei und ein kultiviertes Proletariat eine bewusste und organisierte Mehrheit der Bevölkerung bilde – Bedingungen, die in Russland nicht vorhanden waren. Kautsky stützte sich dabei auf Karl Marx, wenn er bekräftigte, dass eine Revolution nicht dekretiert werden könne und dass allein die Übernahme der politischen Macht nicht zur ökonomischen Befreiung des Proletariats führe, wenn dafür nicht die Bedingungen in der technologischen und wirtschaftlichen Entwicklung des Kapitalismus herangereift seien.
Um sich an der Macht zu halten, mussten die Bolschewiki zumindest vorübergehend Demokratie und Grundrechte einschränken, wie Lenin meinte. Allerdings blieb es nicht dabei und aus dem „vorübergehend“ wurden bis zum Zusammenbruch des Sozialismus über siebzig Jahre. Und so sah Kautsky schon damals in der Unterdrückung der Demokratie, der Ausschaltung von freien Wahlen, Pressefreiheit und Vereinigungsfreiheit die „Erbsünde des Bolschewismus“, was er unter Verweis auf Rosa Luxemburg auch aus dem ultrazentralistischen Parteimodell der Bolschewiki herleitete, was diese schon 1904 grundsätzlich abgelehnt hatte.
In seiner Schrift „Die Diktatur des Proletariats“ (Wien 1918) übte Kautsky scharfe Kritik an den antidemokratischen Praktiken der Sowjetmacht, woraufhin Lenin mit einer geharnischten Polemik in seiner Schrift „Die proletarische Revolution und der Renegat Kautsky“ (Moskau 1918) antwortete. Aber auch in den eigenen Reihen stieß Kautsky nicht nur auf Zustimmung. So entgegnete der Berliner Verleger Adolph Hoffmann, Mitbegründer der USPD, „die schwersten Bedenken“ gegen Kautskys Schrift, denn in „einem Augenblick, wo die Genossen in Rußland um Leben und Tod kämpfen, soll man (ihnen) nicht mit einer solchen Schrift … in den Rücken fallen“, weshalb Hoffmann die Herausgabe der Schrift in seinem Verlag ablehnte. Aus damaliger Sicht war das eine verständliche Reaktion.
Aus heutiger Perspektive jedoch muss eingestanden werden, dass Kautskys Kritik an der Macht der Bolschewiki nicht unberechtigt war, insbesondere sah er in der despotischen Machtausübung eine eigene Logik, die in der Tendenz zu Bürokratisierung und Militarisierung der Gesellschaft und am Ende zur Herrschaft eines einzigen Autokraten führe. Das Stalinsche Regime sollte dafür später den Beweis erbringen. Für Kautsky stand deshalb unverrückbar fest: „Wir verstehen unter dem modernen Sozialismus nicht bloß gesellschaftliche Organisierung der Produktion sondern auch demokratische Organisierung der Gesellschaft. Der Sozialismus ist demnach für uns untrennbar verbunden mit der Demokratie. Kein Sozialismus ohne Demokratie.“
Hinweis
Die gesamte Februar-Ausgabe der LinksWorte ist unter www.linksworte-mittelsachsen.de/ausgaben/102.pdf zu finden. Frühere Ausgaben sind archiviert unter www.linksworte-mittelsachsen.de/archiv.html .