Die Zukunft neu denken
Mit dem Nachdenken über eine zukünftige bessere Gesellschaft waren schon immer Philosophie und andere Wissenschaften befasst. Ausdruck fand das insbesondere in den Gesellschaftsutopien. Bekannt gemacht haben sich hier u.a. der antike Philosoph Platon (428-348 v. Chr.), der englische Lordkanzler Thomas Morus (1478-1535), durch dessen Schrift „Utopia“ die Zukunftsvisionen ihren Gattungsbegriff erhielten. Weiterhin recht bekannt aus dieser Richtung sind die Franzosen Henri Saint-Simon und Charles Fourier (1772-1837) sowie der Engländer Robert Owen, deren frühsozialistische Ideen eine geistige Quelle des Schaffens von Karl Marx und Friedrich Engels werden sollten.
Utopie oder Wissenschaft
Marx und Engels grenzten sich jedoch strikt von diesem frühen Sozialismus ab. Nach Friedrich Engels bekannter Schrift „Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft“ wurde fortan zwischen dem „utopischen“ und dem „wissenschaftlichen“ Sozialismus (hiermit meinten sie sich selber) unterschieden. Das sollte nicht ohne Folgen bleiben.
Spätere marxistisch-leninistische Parteien („neuen Typs“) stützten sich darauf und hielten sich für die Horte des wissenschaftlichen Sozialismus. Mit Utopien gaben sie sich nicht ab, sie galten abwertend nur als wirklichkeitsfremde Spekulationen. Unter Berufung auf eine Passage aus dem „Manifest der Kommunistischen Partei“ von Marx und Engels, wo es heißt, die Kommunisten hätten „theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus“, meinten sie über ein historisches Wahrheitsmonopol zu verfügen.
Die kommunistische Utopie
Jedoch war die von Karl Marx erstmals 1875 in der „Kritik des Gothaer Programmentwurfs“ skizzierte Vision einer kommunistischen Gesellschaft der Zukunft auch nur eine Utopie. Nach einer ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, die nach langen Geburtswehen aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgehe und noch in jeder Beziehung von den Muttermalen dieser alten Gesellschaft geprägt sei, folge darauf die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft.
In dieser höheren Phase, dem eigentlichen Kommunismus, werden mit der allseitigen Entwicklung der Individuen auch ihre Produktivkräfte gewachsen sein und alle Springquellen des gesellschaftlichen Reichtums voller fließen. Dann könne die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!
Diese kommunistische Zukunftsvision hatte für die kommunistische Welt-Bewegung nach 1919 eine identitätsstiftende Bedeutung. Auch in ihrem letzten Programm von 1976 meinte die SED, „eine wissenschaftlich begründete Charakteristik der zweiten Phase einheitlichen kommunistischen Gesellschaftsformation“ geben zu können.
Demokratischer Sozialismus
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus „zwischen Istrien und Wladiwostok“ (Hobsbawm) hatte es sich mit dem Kommunismus als der „lichten Zukunft der Menschheit“ (Programm der SED) ausgeträumt. Marxisten haben heute davon auszugehen, dass sich die gesellschaftlichen Bedingungen seit der Marx’schen Vision von 1875 gewaltig verändert haben.
Von daher heißt es im Erfurter Programm der LINKEN von 2011: „DIE LINKE kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein.“ Dabei orientieren sich demokratische Sozialisten an den Werten der Freiheit, Gleichheit, Solidarität, an Frieden und sozialökologischer Nachhaltigkeit. Diese Werte bestimmen auch die Mittel auf dem Weg zu einer demokratisch-sozialistischen Gesellschaft.
Existenzielle Herausforderungen
In den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts beginnend und in den Achtzigern intensiver fortführend, befasste sich die Futurologie (Zukunftsforschung) verstärkt mit globalen Menschheitsproblemen, die als Gefährdungen für die Zukunft der Menschheit angesehen wurden. Als ein prominenter Vertreter aus dem linken Spektrum äußerte sich hierzu Ossip K. Flechtheim 1987 in seinem Buch „Ist die Zukunft noch zu retten?“, wo für die Taschenbuchausgabe Oskar Lafontaine das Vorwort geschrieben hatte, der mit seinem 1988 erschienenen Buch „Die Gesellschaft der Zukunft“ selbst in die öffentliche Debatte eingegriffen hatte.
Flechtheim spricht in seinem Buch von „sieben existentiellen Herausforderungen“:
* Rüstungswettlauf und Krieg;
* Bevölkerungsexplosion und Hunger;
* Bedrohung und Zerstörung der Umwelt;
* Wirtschaftskrise und Überplanung;
* Demokratiedefizit und Repression;
* Kulturkrise;
* Krise der Familie und Identitätsverlust des Individuums.
Neben zwei negativen Szenarien für mögliche Zukünfte beschreibt er in einem dritten Szenario einen Ausweg: „Rüstungswettlauf, Umweltzerstörung und Ausbeutung der Dritten Welt stoßen auf wachsenden Widerstand. Ein neuer Mut zur Utopie ist spürbar, der aus christlich-pazifistischen, libertär-sozialistischen, ökologisch-humanistischen Quellen gespeist wird. Alle diese Gruppen streben nach einer Welt, in der man wohl noch mit Konflikten rechnen muß, diese aber immer mehr gewaltfrei austrägt. Sie alle wollen den Gegensatz zwischen westlichem Kapitalismus und östlichem Etatismus, zwischen technologischem Gigantismus im Norden und primitiver Rückständigkeit im Süden überwinden.“
Nun ist der „östliche Etatismus“ (staatszentralistisches System) 1989/90 zusammengebrochen, aber die existenziellen Menschheitsprobleme sind geblieben, ja haben sich teilweise sogar verschärft.
Zusammenbruch oder Transformation
Wenn für die Linken die Vision bleibt, dass der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte ist, dann stellt sich die Frage, wie eine Alternative jenseits des Kapitalismus erreichbar ist. Nun war bereits in der Vergangenheit mehrfach ein Zusammenbruch des Kapitalismus vorausgesagt worden, so von Rudolf Hilferding (1910), von Rosa Luxemburg (1913), von Lenin (1916). Rosa Luxemburg hatte gar den Versuch unternommen, in ihrer Schrift zur Akkumulationstheorie den Zusammenbruch des Kapitalismus mathematisch nachzuweisen, was sich als eine Sackgasse erweisen sollte. Auch nach heutigem Kenntnisstand sieht es ganz so aus, als würde der Kapitalismus nicht eines natürlichen Todes sterben. Zu dieser Einschätzung kommen auch bekannte marxistische Wissenschaftler (Georg Fülberth, Dieter Klein).
Der Kapitalismus hat sich bisher als eine robuste und flexible Ordnung erwiesen, mit einer hohen Fähigkeit, auftretende Konflikte und Problemlagen recht geschmeidig zu integrieren und dadurch das System wieder zu stabilisieren. Es hat ganz den Anschein, dass keine Gesellschaftsordnung vor ihm eine derartige Flexibilität und Reaktionsfähigkeit zur Systemerhaltung besaß (offensichtlich auch nicht der entschwundene Sozialismus). Deshalb ist davon auszugehen, dass die alles umstürzende Revolution in Europa in absehbarer Zeit mit größter Wahrscheinlichkeit nicht stattfinden wird.
Jedoch erfordern die „fortschreitende Zerstörung der Biosphäre, der Hunger und die absolute Armut von rund einer Milliarde Menschen trotz des verfügbaren Reichtums auf der Erde, Kriege, die durch Waffenexporte der Industrieländer genährt werden, wachsende Klüfte zwischen Reich und Arm und Erosion des sozialen Zusammenhalts der Gesellschaft, katastrophale Wirkungen der Finanzmärkte, postdemokratische Entwicklungen und permanente Verletzungen der Würde des Menschen … die Überwindung des Kapitalismus durch eine bessere Gesellschaft. Die einen erhoffen dies noch immer durch Revolution, die anderen setzen noch immer auf Reformen.“ (Dieter Klein)
Da es unklar ist, wie lange noch der Kapitalismus bestehen wird, käme es zunächst darauf an, die Gefahren und zerstörerischen Tendenzen dieses Gesellschaftssystems (Krieg, Ressourcenverschleiß, Umweltzerstörung, Unterdrückung und Ausbeutung) zu blockieren und dafür zu sorgen, dass jene anderen Potentiale genutzt werden, die sich im Kapitalismus zur Erleichterung des menschlichen Lebens (vor allem durch Naturwissenschaft, Technik und Medizin) bislang entwickelten. (Fülberth)
Dieter Klein sieht als Perspektive eine „doppelte Transformation“. Diese doppelte Transformation als strategische Orientierung in Europa für die kommenden Jahrzehnte umfasse zwei ineinandergreifende Prozesse.
Die erste Seite könnte eine postneoliberale Transformation zu sozial und ökologisch regulierten bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften sein. Die Finanzialisierung der Gesellschaft würde durch soziale und ökologische Reformen zurückgedrängt werden. Mehr repräsentative Demokratie mit stärkerer Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger, ein unter den veränderten Bedingungen erneuerter Sozialstaat, ein größeres Gewicht des Öffentlichen, insbesondere der öffentlichen Daseinsvorsorge, und eine verantwortungsvollere Umwelt- und Sicherheitspolitik wären erreichbar. Ein Spielraum für die Minderung der globalen Gefahren könnte gewonnen und ein progressiver Richtungswechsel eingeleitet werden. Die zweite Seite bestünde darin, dass im Verlauf der innersystemischen Reformen bereits antikapitalistische und potenziell sozialistische Tendenzen, Elemente, Institutionen und Praxen entwickelt und gestärkt werden. Mit der postneoliberalen bürgerlichen Transformation müsste der Einstieg in die Überschreitung des Kapitalismus, also der Beginn einer zweiten Großen Transformation hineingeholt werden.
Hinweis
Die gesamte Juni-Ausgabe der LinksWorte ist unter www.linksworte-mittelsachsen.de/ausgaben/94.pdf zu finden. Frühere Ausgaben sind archiviert unter www.linksworte-mittelsachsen.de/archiv.html .