Von Köln nach Dresden über Leipzig
Wie der Zufall Menschen und Städte verbindet
Altstadt vor Flusslandschaft – für mich, als Dresdner von Geburt, ein alter Hut. Hier zeigt sich jede Stadt von ihrer Schokoladenseite, geschminkt und herausgeputzt. Hüben wie Drüben, ob an Rhein oder Elbe, ragen die Türme berühmter Bauwerke zum Himmel und so sehr unterscheiden sich ihre Geschichten, von Erzbischöfen und Kurfürsten, von Aufbau und Zerstörung, nicht. Sie sind so einmalig wie die Gedanken und Gefühle derer, die heute wie vor 100 Jahren am Ufer sitzen, dem Wind lauschen und das Treiben beobachten.
Auch ich sitze auf einer Bank und ruhe mich aus von meiner Besichtigung, als ein Paar neben mir wegen seiner liebenswert gegensätzlichen Erscheinung meine Aufmerksamkeit erregt. Ich wage den Schritt und spreche sie an, komme aus Leipzig, sei Journalist … und erfahre am ersten Tag meines Urlaubes am anderen Ende Deutschlands, dass nichts wahrscheinlicher ist als der Zufall.
Die Frau, mit der ich mich unterhalte, ist 92 Jahre alt und sitzt im Rollstuhl, seit sie mit 87 einen Straßenbahnunfall erleiden musste. Lotte Kiener wurde in Eberbach bei Heidelberg geboren, wuchs in Wiesbaden auf, lebt seit ihrer Einschulung in Köln und arbeitete als Sparkassenangestellte. Ihr Begleiter ist Jürgen Beusing, ein Freund der Familie, der sich an einem freien Tag Zeit für sie genommen hat. Er arbeitet als Werkstattlehrer und war, wie sein Äußeres vermuten lässt, Mitglied einer Brass-Band »Go2Groove«, die 2002 in Leipzig auf dem Honky Tonk Festival aufgetreten ist.
Der Kreis um Leipzig schließt sich enger mit jedem Wort, das wir wechseln. Der Großvater Lotte Kieners war Richard Naumann und Betreiber der »Obstweinschänke« in Böhlitz-Ehrenberg bei Leipzig. Sein Sohn, Walter Naumann und Vater von Lotte Kiener, lernte das Gastronomiewesen in Städten, wie Paris, London, Grenobel oder Atlantic Citiy, bis ihn der Erste Weltkrieg als Meldegänger an die Westfront verschlug. Hier fotografierte er mit einer von seinen Reisen mitgebrachten Kamera den Alltag und Erlebnisse des Krieges. Die Fotos wurden kürzlich auf der Internetplattform europeana1914-1918.eu veröffentlicht, worüber BILD-Leipzig am 2. Februar 2014 berichtete. Nach Kriegsende verließ Walter Naumann seine Geburtsstadt und lernte im Grand Hotel »Nassauer Hof« in Wiesbaden seine Frau, ein Dienstmädchen, kennen. 1927 reiste die Familie nach Köln, wo Walter Naumann 1952 starb und Lotte Kiener mir im Jahre 2014 begegnet.
Oft blickt sie auf den Rhein, das Sprechen scheint sie Kraft zu kosten und manchmal fällt es mir schwer, ihre leisen und dünnen Worte im tosenden Wind zu verstehen. Das wichtigste, was sie mir, dem jungen Menschen, sage möchte, ist, dass der Krieg, den sie in Köln erleben musste, furchtbar war und niemals wiederkehren darf. Und ich denke, wie dort in Köln am Rhein, wo die Türme des Doms in die Wolken ragen und Lotte Kiener und Jürgen Beusing wohnen, würden in Leipzig, wo der Rathausturm im Zentrum grüßt und ich heute lebe, oder in Dresden an der Elbe, wo die Frauenkirche ihre Kuppel in den Himmel streckt und ich geboren wurde, die alten Menschen das Gleiche sagen.