Viel zu tun
Widerspruch im Gespräch mit Volkmar Schöneburg zu LOS, Hartz IV und Mindestlohn
Nach zehn Jahren Hartz IV ist es nun an der Zeit kritisch Bilanz zu ziehen. Inwieweit haben diese „Arbeitsmarktreformen“ unsere Gesellschaft verändert? Haben sich die Befürchtungen der LINKEN, die diese Politik ablehnten, bewahrheitet? Im Januar sind es nicht nur zehn Jahre Hartz IV, sondern gleichzeitig wird der gesetzliche Mindestlohn in Deutschland eingeführt. Mehr dazu auf den folgenden Seiten im Gespräch mit Dr. Volkmar Schöneburg, Mitglied des Landtages.
- Knapp zwei Monate bist Du nun als Landtagsabgeordneter (Fraktion DIE LINKE) für den Landkreis Oder-Spree zuständig. Was sind Deine ersten Eindrücke?
Im Vordergrund meiner Besuche standen bisher natürlich organisatorische Fragen: Einrichtung des Wahlkreisbüros und Koordination der Arbeit vor Ort sind da zwei Stichworte. Daneben stelle ich mich den Basisorganisationen vor. So besuchte ich die Basisorgansation der LINKEN in Schöneiche, Veranstaltungen in Beeskow und Fürstenwalde sind geplant. Zudem war ich in der Gesellschaft für Arbeit und Soziales e. V. (GefAS) in Fürstenwalde, um mich über die Probleme der Aufnahme und Integration von Flüchtlingen zu informieren.
- Über welche Probleme hast Du mit der GefAS gesprochen?
Die Palette reichte von der Finanzierung von Sprachunterricht über bürokratische Hemmnisse bei der Gesundheitsversorgung bis hin zu der Frage, ob die Erhöhung der Flüchtlingszahlen auch zu einem Anstieg der Kriminalität führt.
- Und, ist das so?
Nein! Der GefAS-Vorstand Siegfried Unger hat dies ausgeschlossen. Das deckt sich auch mit der Kriminalstatistik. Mit der Kriminalitätsfurcht werden Vorurteile geschürt.
- Die GefAS ist aber nicht nur für Flüchtlinge zuständig?
Natürlich haben wir uns auch über die Tafeln, Kleider- und Möbelkammern unterhalten. Dieses Aufgabenfeld hat in den letzten zehn Jahren an Bedeutung gewonnen, was mit den „Arbeitsmarktreformen“ zusammenhängt.
- Wie schätzt Du Hartz IV und die Folgen ein?
Christoph Butterwegge hat in seinem Buch (siehe Kasten) von einem Weg in eine andere Republik geschrieben. Nicht ganz unberechtigt: Gaben die Macher der Reformen beispielsweise vor, die Zeit Einzelner in der Arbeitslosigkeit verkürzen zu wollen, so ist das Ergebnis ein anderes. Rund die Hälfte der Hartz-IV-Empfänger beziehen länger als vier Jahre SGB-II-Leistungen. Daneben hat sich der Arbeitsmarkt radikal verändert. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse, irreguläre Beschäftigungsformen, Leiharbeit und befristete Arbeitsverträge haben rasant zugenommen. Selbst im öffentlichen Dienst wird vielfach nur befristet eingestellt. Ein Beispiel: Neun von zehn Stellen an den Hochschulen und Universitäten sind befristete Stellen. Das ist ein Verlust von Wissenschaftlichkeit, der damit einhergeht. Das eigentliche Ziel dieser Reformen ist, durch Erhöhung des Drucks auf Erwerbslose und Beschäftigte die Verwertungsbedingungen des Kapitals bei uns zu verbessern.
- Butterwegge spricht von einer Entdemokratisierung, was ist damit gemeint?
Zunächst ist Hartz IV ein Mehr an Überwachungsstaat. Die Betroffenen müssen ihre Wohn-, Einkommens- und Vermögensverhältnisse offen legen. Das staatliche Kontroll- und Meldewesen führt die Freiheitsrechte zum Teil ad absurdum. Unabhängig davon, wie sich die Betroffenen fühlen müssen, werden sie vielfach unter den Generalverdacht des „Sozialschmarotzers“ gestellt. Darüber hinaus schwindet die Bereitschaft der Armen, sich politisch zu engagieren. Die Nichtbeteiligung an den Wahlen ist nur ein Indiz dafür. Der niedrige Regelsatz macht oft eine Teilhabe (Kultur, Bildung …) unmöglich, was jedoch für eine lebendige Demokratie unverzichtbar ist.
- Was ist in diesem Kontext die Aufgabe der Partei DIE LINKE?
Auf Landesebene müssen wir die negativen Auswirkungen von Hartz IV abmildern. Das bedeutet beispielsweise auf meinem Politikfeld der Justiz, den Betroffen einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Durch sehr viele Hartz-IV-Klagen vor den Sozialgerichten sind diese überlastet. Die Folge sind lange Verfahrenslaufzeiten. Die sind oft für die Betroffenen unzumutbar. Hier muss durch eine sinnvolle Personalpolitik Abhilfe geschaffen werden. Ansonsten gilt es, auf Bundes- und Landesebene den Empfängern von Hartz IV immer wieder eine machtvolle und erkennbare Stimme zu verleihen. Natürlich ist die Abschaffung des Systems das Maximalziel. Aber auch mit einer deutlichen Erhöhung des Regelsatzes und der Abschaffung der meines Erachtens verfassungswidrigen Sanktionen wäre vielen geholfen.
- Gibt es Deiner Meinung nach einen Zusammenhang zwischen der Politik der Agenda 2010 und Pegida?
Wenn man ersten soziologischen Analysen Glauben schenken darf, sind viele der Pegida-Demonstranten auch von Abstiegsängsten getrieben. Die Abstiegsangst der Mittelschichten wie die Unzufriedenheit mit der Demokratie sind durchaus auch ein Resultat der oben geschilderten Arbeitsmarktveränderungen. Diese Situation machen sich Rechtspopulisten und Rechtsradikale zunutze, indem sie Ausländerinnen und Ausländer als Sündenböcke präsentieren. Es ist die unheilige Allianz zwischen den Biedermännern und den Brandstiftern, die bei Pegida aufscheint. Im Übrigen ist es eine Erkenntnis, dass überall dort, wo der demokratische und soziale Rechtsstaat das Soziale verfehlt, rechtsradikale Weltbilder im Aufwind sind. Die Alternative ist eine ernsthafte Politik des Sozialen, die jedoch nicht zum Monopol der Parteien verkommen darf.
- Ist der Mindestlohn nicht eine Korrektur der mit Hartz IV verknüpften Arbeitsmarktpolitik?
Zunächst ist die Einführung des Mindestlohns ein Fortschritt, der im Übrigen auch auf unseren langjährigen Druck zustande kam. Trotzdem sollte man realistisch bleiben. Der Mindestlohn gilt zwar seit Januar für die meisten, jedoch erst ab 2017 für sämtliche Branchen. Fast alle westeuropäischen Staaten haben bereits heute einen höheren Mindestlohn als die bei uns geregelten 8,50 Euro. Ob 2017 bei steigenden Mieten, Energie- und Nahrungsmittelkosten diese 8,50 Euro selbst bei Vollzeiterwerbstätigkeit noch zur Deckung des soziokulturellen Existenzminimums ausreichen, ist zu bezweifeln. Aber das größte Manko im Verhältnis zu Hartz IV ist folgendes: Die schutzbedürftigen Gruppen – Langzeitarbeitslose, Jugendliche ohne Berufsausbildung, Praktikanten, Saisonarbeiter und Zeitungsausträger – können weiter zu Niedriglöhnen beschäftigt werden. Es gibt also noch viel zu tun.
Buchtip
Hartz IV und die Folgen.
Auf den Weg in eine andere Republik?Vor zehn Jahren sind PDS und WASG unter der Überschrift „Hartz IV – Armut per Gesetz“ gegen eine Politik zu Felde gezogen, die den Kampf gegen Arbeitslosigkeit als einen Kampf gegen Arbeitslose ausgestaltete. Christoph Butterwegge legt nun auf knapp 300 Seiten die Bilanz dieser Politik vor. Das Ergebnis der historisch fundierten, exzellenten Studie ist ernüchternd, ja erschreckend. Sie bestätigt die damaligen Befürchtungen. Hartz IV ist, indem die Arbeitslosenhilfe faktisch durch eine Fürsorgeleistung ersetzt wurde, der gravierendste Abbau von Sozialstaatlichkeit in Deutschland nach 1945. Butterwegge verdeutlicht aber nicht nur, wie sich durch die Arbeitsmarktreform das Armutsrisiko von Langzeitarbeitslosen erhöht, sich der Niedriglohnsektor erweitert und zugleich die Rentabilität der hiesigen Konzerne verbessert, sondern zeigt auch die damit einhergehende Entdemokratisierung. Hartz IV ist, wie Oskar Negt es beschrieb, ein Angriff auf die soziale Würde der Betroffenen. Das vorliegende Buch ist unverzichtbar für diejenigen, die sich für die Interessen der Deklassierten einsetzen und ihnen politische Partizipationsmöglichkeiten einräumen.
Dr. Volkmar Schöneburg