04.12.2014
Reinhard Kluge
Erschienen in: Mittelsächsische LinksWorte (Mittelsachsen, Sachsen)

Wie die Welt anders wurde - Der erste Weltkrieg und die heutigen Krisen

Die LinksWorte erreichte folgender Beitrag unseres Lesers Prof. Dr. Reinhard Kluge

Wer in der Presse (zum Beispiel in der Freien Presse vom 27.9.2014) Berichte über die neuen Bücher zum Ersten Weltkrieg liest und deren Inhalt mit seinem eignen Geschichtsbild vergleicht, ist zutiefst irritiert und muss sich fragen, was ist dran an diesen neuen Thesen. Stimmt es, dass an diesem Krieg keiner Schuld hatte, wie es die neuen Bücher von Clark und Friedrich verheißen? Die neue These: Man sei in den Krieg hinein geschliddert. Das wird alles quellengesättigt erzählt. Aber werden die Quellen auch kritisch genug analysiert, werden die schließlich zum Krieg führenden Schritte der Politiker und Militärs unter dem Gesichtspunkt der sich in Europa nach 1900 extrem verschärfenden wirtschaftlichen Interessengegensätze analysiert? Wer je die Quellen in Wien und Berlin gesehen hat, weiß, dass Kaiser Wilhelm II. seinem Vetter in Wien grünes Licht zum Krieg gegen Serbien gegeben hat, und dass er, als der deutsche Botschafter in Wien vor übereilten Schritten warnte, an den Rand des Berichtes schrieb, der Botschafter solle den Unsinn lassen: „Mit den Serben muss aufgeräumt werden und zwar bald.“ Die deutsche Führung wusste, dass Österreichs Krieg gegen Serbien Krieg mit Russland und infolge des europäischen Bündnissystems auch mit Frankreich bedeutete. Und sie wollte den Krieg jetzt, auch aus Sorge, dass der russische Eisenbahnbau und die französische Nachrüstung den zeitweiligen militärischen Vorteil Deutschlands zunehmend ausgleichen mussten. Dass England nach dem Einmarsch in das neutrale Belgien gemäß dem deutschen Angriffsplan des Generals Schlieffen neutral bleiben würde, damit konnte die deutsche Führung ernsthaft nicht rechnen. Da waren die Reibungspunkte, durch die deutsche Flottennachrüstung und Kolonialpolitik provoziert, viel zu groß. Wenn dann noch gesagt wird, die Kriegsparteien hätten kein Motiv, kein Kriegsziel gehabt, dann bleibt dem geneigten Leser der Mund offen vor Staunen. Als ob es in Deutschland nicht den Alldeutschen Verband gegeben hätte, eine in Vereinsform organisierte Denkfabrik, die die Interessen v.a. der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie formulierte und deren enge Kontakte zur Regierung in den im Bundesarchiv Berlin erhaltenen Dokumente dieses Vereins belegt sind. Die 1914 nach Ausbruch des Krieges erneut dargelegten
Ziele: Annexion Belgien, von westfranzösischen Gebieten, des Baltikums, von Westrussland, Schaffung eines mitteleuropäischen Wirtschaftsraums unter deutscher Führung, daneben ein Kolonialreich in Afrika, sind vom Alldeutschen Verband bereits 1906 und 1911 formuliert worden.
Bedenklich wird es dann besonders, wenn noch Parallelen zu den gegenwärtigen Krisen gezogen werden unter der Losung: „Was bedeutet es heute – Putin agieren zu lassen – um des lieben Friedens willen?“ Darf man vielleicht auch mal fragen, ob Russland nach 1990 nicht erwarten durfte, dass der Status quo nach dem kalten Krieg in Osteuropa erhalten bleibt? Aber dann musste es zusehen, wie die NATO,US-amerikanischen Ambitionen als alleiniger Weltmacht folgend, nach Osteuropa vorrückte, auf den Balkan, ins Baltikum, zuletzt die Hand nach der Ukraine ausstreckte, was den Verlust der Stützpunkte der Schwarzmehr-Flotte und nicht zuletzt bedeutender militärischer Ressoucen (strategische Raketenproduktion)befürchten ließ. Dazu zwei Fragen: Ist eine um Frieden bemühte Außenpolitik denkbar ohne Berücksichtigung der berechtigten Interessen der anderen Seite und schließlich, warum hat das vereinigte Deutschland nicht den historischen Schritt der Versöhnung, den Adenauer mit Frankreich vollzogen hat, nach 1990 mit Russland, über das es im zweiten Weltkrieg so viel Leid gebracht hat, nachvollzogen? Nur, weil es den Amerikanern nicht genehm war? Als ob Deutschland und Europa nicht eigne Interessen bei der Erhaltung des Friedens hätten!

Dr. Reinhard Kluge
Alte Str. 79
09623 Rechenberg-Bienenmühle

Hinweis
Die gesamte November-Ausgabe der LinksWorte ist unter www.linksworte-mittelsachsen.de/ausgaben/87.pdf zu finden. Frühere Ausgaben sind archiviert unter www.linksworte-mittelsachsen.de/archiv.html .