Offene Grenzen! Aber Wie?
Ein Beitrag zur Debatte um das Wahlprogramm der LINKEN
Es ist nicht ausreichend, sich in der Forderung nach offenen Grenzen einzurichten, ohne die Frage zu beantworten: Was ist gemeint? Wie soll es erreicht werden?
Es ist nicht ausreichend, für ein Bundestagswahlprogramm mit dem Horizont einer Wahlperiode Passagen des Parteiprogramms abzuschreiben. Es muss schon gesagt werden, welche konkreten Schritte zum erklärten Ziel in der Wahlperiode unternommen werden sollen.
Aber nicht nur das. Es ist zu klären, mit welchen Problemen dabei zu rechnen ist und wie mit ihnen umgegangen werden soll.
Zwischen der Verabschiedung des Erfurter Programms (aktuelles Wahlprogramm der Partei DIE LINKE, Red.) und den Bundestagswahlen ist gerade auf diesem Gebiet einiges passiert. Mindestens sollte mit zehntausenden Menschen an den Grenzen der Europäische Union (EU) die Illusion gestorben sein, Grenzen würden eine immer geringere und letztlich gar keine Rolle mehr spielen.
Wann sind Grenzen offen? Wenn es keine Grenzkontrollen gibt? Wenn es kein Grenzregime gibt? Wenn es Visafreiheit gibt? Sind Freihandelsabkommen auch eine Form der Grenzöffnung? Gibt es gar einen Zusammenhang zwischen der Ablehnung von Freihandelsabkommen – die ja der Vorstellung von einem Leben in schützenden Grenzen folgt – und der Forderung nach offenen Grenzen?
Die Antwort beginnt mit der Frage: Sind Staatsgrenzen, ist das Grenzregime nur eine verzichtbare (böswillige?) Erfindung oder notwendiges Produkt und Mittel der Gestaltung (Beherrschung) gesellschaftlicher Verhältnisse?
Ist die Forderung nach offenen Grenzen die Forderung nach Abschaffung eines jeglichen Grenzregimes oder „nur“ nach einem anderen System von Rechten, Maßnahmen und Normen, die die Ordnung der Einreise, des Aufenthalts und des Verkehrs regeln?
Kann bei der Festlegung und Durchsetzung des Grenzregimes der „freie Wille“ walten oder gibt es Faktoren, denen bei seiner Ausgestaltung Rechnung zu tragen ist?
Staat und Grenzen
Es gibt keinen Staat ohne Grenzen. Ohne ein Staatsgebiet, ein Staatsvolk und eine Staatsgewalt gibt es keinen Staat. Und damit hat der Staat auch (unter Beachtung der Normen des Völkerrechts) die Ordnung an seinen Grenzen und für den Verkehr über diese Grenzen zu regeln.
Die EU ist über viele Jahre dem Ansatz gefolgt, die restriktiven Seiten das Grenzregime zwischen ihren Mitgliedern fortschreitend an die gemeinsame Außengrenze zu verlagern.
Offene Grenzen innerhalb der EU und freie Wahl des Aufenthalts ihrer Bürger unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit gehörten im Schengen-Europa zusammen. Die verschiedenfarbigen Regierungen der BRD haben diese Entwicklung entschieden vorangetrieben. Sie hat die Starken stärker und die Schwachen wehrloser gemacht. Wer das für eine Politik der „offenen Grenzen“ hält, muss mindestens drei ihrer Effekte ins Auge sehen:
- Erstens wurde im Zuge dieser Entwicklung das Grenzregime an der gemeinsamen Außengrenze immer brutaler. Ihre wohl erschütternsten Bilder zeigen einen toten syrischen Junge am griechischen Strand und blutverschmierte Kleiderfetzen am NATO-Draht der spanischen Grenzzäune um Ceuta und Melilla.
- Zweitens fielen mit dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital („vier Freiheiten“) innerhalb der EU auch die Schutzwirkungen nationaler Grenzen. Das eine war mit dem anderen zu bezahlen. Der Spielraum für nationale Politik in diesen Bereichen wurde damit immer mehr eingeschränkt. Auch das kann für gut befunden werden. Für die Folgen steht dann aber auch die Erdrosselung des in einem Volksentscheid bekundeten Willens einer Mehrheit des griechischen Volkes.
- Und drittens schließlich wurden und werden in wesentlichen Bereichen auch innerhalb der EU die nationalen Grenzen beibehalten. Es gibt kein einheitliches Sozialsystem und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) meint: Arbeitnehmerfreizügigkeit bedeute gerade nicht, dass man sich den Ort aussuchen darf, an dem man Sozial(hilfe)leistungen bezieht. In dieser Beziehung sollen nach der Auffassung der Herrschenden die Grenzen dicht bleiben.
Objektive Faktoren
Wer nun linke Forderung nach offenen Grenzen aufmacht, der kann nicht auf der abstrakten Ebene stehen bleiben. Schon innerhalb der EU gibt es erhebliche Unterschiede, die sich nicht wegbeschließen lassen. Nach den Zahlen für 2015 betrug das durchschnittliche Bruttosozialprodukt in der EU 28.700 €, in der BRD waren es 37.100 €, aber in Polen als unserem unmittelbaren Nachbarn nur 11.100 €. Bevor über uns kam, was viele heute „Flüchtlingskrise“ nennen, war folgerichtig an der Grenze zwischen der BRD und Polen „Grenzkriminalität“ ein auch öffentlich wahrgenommenes viel diskutiertes Problem.
Aktuell geht es um andere Fragen (auch wenn das alte Thema nie so richtig weg war).
Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) erstreckte sich weltweit die Bandbreite für das kaufkraftbereinigte Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2013 von 98.814 $ bis zu 542 $ im Jahr. Gerade in Zeiten weltweiter Kommunikation und wachsender technischer Möglichkeiten für die Migration können solche Verhältnisse nicht ohne Wirkung bleiben.
Welche Interessen dominieren?
Damit stellt sich die Frage, welche Interessen auf die Regulierung der aus dieser gewaltigen Bandbreite unvermeidlich entspringenden Spannungen durch das Grenzregime wirken und wie mit ihnen umzugehen ist. Kann ein ersatzloser Verzicht auf jegliche Regulierung unter den gegebenen Bedingungen eine realistische Option sein?
DIE LINKE darf der CDU und ihrer Bundeskanzlerin die moralische Verklärung einer durch und durch interessengeleiteten Politik nicht durchgehen lassen.
Wie viele soziale Grausamkeiten wurden in den zurückliegenden Jahren mit dem Gespenst einer demographischen Katastrophe, der Überalterung und des Bevölkerungsrückgangs gerechtfertigt? Selbst Regierungen anderer EU-Staaten sahen deutsche Entscheidungen zur Einreisepolitik vor diesem Hintergrund. Dabei haben diese Entscheidungen tatsächlich zeitweise zu einem Kontrollverlust an den Grenzen geführt. So klagte der Vorsitzende der Polizeigewerkschaft in der Bundespolizei in einem Brief an Angela Merkel: „Die Bundespolizei ist gegenwärtig nicht in der Lage, den ihr obliegenden Auftrag der Gefahrenabwehr und der Strafverfolgung an der deutsch-österreichischen Grenze in der gesetzlich gebotenen Weise wahrzunehmen … Da die Bundespolizei mehrheitlich nicht weiß und auch nachtäglich nicht erfährt, wer über Österreich nach Deutschland einreist, wird jede polizeiliche Auswertung, jede Aufdeckung von Schleuserstrukturen oder das Sammeln von Hinweisen auf Ausnutzung der Flüchtlingsströme durch Terrorkommandos vereitelt.“ Das nennt man Kontrollverlust.
Nach den innenpolitischen Verwerfungen, die auch davon beeinflusst waren, bescheinigte sich nun die Bundesregierung in ihrem jüngsten Demographiebericht die Wirksamkeit ihrer Politik: „Die demografische Lage in Deutschland hat sich in jüngster Zeit verändert. Dazu beigetragen hat vor allem das Migrationsgeschehen der letzten zwei Jahre … Ob Deutschlands Einwohnerzahl bis 2060 zurückgehen wird, ist aus bevölkerungswissenschaftlicher Sicht somit noch offen.“
Das ist die Verabschiedung von den Grundlagen einer Darstellung, die uns in den zurückliegenden Jahren immer wieder präsentiert wurde. Und ein Schelm, wer bei diesen 300.000 an die von der CSU geforderte Obergrenze denkt.
Es ist auch nicht hilfreich, wie erst in den letzten Tagen mit tendenziös verkürzten Zitaten zum Zwecke der Skandalisierung nicht genehmer Auffassungen praktiziert, jegliche legale oder illegale Migration durch die Brille des Asylrechts zu betrachten. Unter anderem, weil das Asylrecht eben gerade keinen Schutz für aus wirtschaftlicher Not erwachsende Migration hergibt.
Wer nun in einem auf die Dauer einer Wahlperiode des Bundestages zielenden Programm die LINKE-Forderung nach offenen Grenzen aufmacht, der kann nicht auf der abstrakten Ebene stehen bleiben. Vielmehr sind ganz konkrete Schritte zu bestimmen, damit eine solche Politik nicht wieder in ein vorhersehbares Desaster führt.
Da muss DIE LINKE nicht über abstruse Obergrenzen diskutieren, sondern darstellen, welche Kapazitäten sie in der Bundesrepublik Deutschland für die Aufnahme von Menschen vorhalten will und wer das bezahlen soll:
- Wie viele Wohnungen?
- Wie viele Arbeitsplätze?
- Wie lassen sich Massenunterkünfte vermeiden?
- Was ist unter den Bedingungen des realen Kapitalismus möglich, um zu verhindern, dass Migrantinnen und Migranten als Druckmittel gegen soziale Forderungen Einheimischer missbraucht werden?
Davon wird doch bestimmt, wie viele Menschen ohne politische und soziale Verwerfungen im Lande aufgenommen werden können, wie offen also Grenzen sein können. Da ist Voluntarismus gefährlich.
Zur Zeit ist es doch so, dass die Entlastung gerade der Kommunen, die Räumung der zur Unterbringung Geflüchteter genutzten Turnhallen und Vieles mehr ganz wesentlich Folge des Deals mit der Türkei und der rasant gewachsenen Zahl der Toten im Mittelmeer ist. Dagegen anzutreten verlangt eine Politik, mit der die Annäherung an offene Grenzen weder kurz- noch langfristig zu Kontrollverlusten und zur Verschärfung von Konflikten im Lande führt.